Abenteuerliche Himalayadurchquerung
Dienstag, den 7.9.1999
Als der Bus mit allen 16 Teilnehmern um 5:00 Uhr abfährt, ist es noch dunkel. Doch bald wird es hell und ich
betrachte die mit sattem Grün geschmückten Berge, wo noch an den steilsten Hängen Reisfelder kleben. Die Straße
wird zunehmends schlechter, und die Geländetauglichkeit des Busses auf eine harte Probe gestellt. Gegen Mittag erreichen wir den
nepalesischen Grenzort Kodari. Nachdem die Ausreiseformalitäten erledigt sind, dürfen wir die
sogenannte Freundschaftsbrücke überschreiten. Vom chinesischen Grenzort Zhangmu trennt uns nun noch eine halbe Stunde Fahrt
in einem Viehtransporter. In der einen Hand den Foto, die andere fest an einem Gitterstab, versuche ich, mich irgendwie auf den Beinen
zu halten, was aufgrund der Bodenunebenheiten alles andere als einfach ist. Dann gibt es Probleme mit meiner Reisebuchung:
Den Organisatoren ist meine Reiseagentur nicht bekannt! Ich fürchte schon, einem Betrüger zum Opfer gefallen zu sein
und die 250 Dollar in den Sand gesetzt zu haben, aber jene wollen die Sache in Kathmandu regeln, und so habe ich meine
Ruhe. Während die Visa kontrolliert und die Tibet-Permits ausgestellt werden, gibt es in einem Restaurant Mittagessen.
In Ermangelung meines Passes, den ich zum Einlösen von Travellerschecks gebraucht hätte, tausche ich vorläufig 20 Dollar
bei einer der geschäftig umherlaufenden Geldwechslerinnen.
Blick von der Freundschaftsbrücke auf Zhangmu
Gegen 15 Uhr brechen wir auf, verteilt auf vier Landcruiser, um die 34 km durch das Hochgebirge des Himalaya bis nach
Nyalam hinter uns zu bringen. Wegen einer Panne bleibt ein Auto auf der Straße liegen, die Insassen verteilen sich auf die restlichen
Fahrzeuge. Am am nächsten Morgen ist der vierte Wagen aber wieder einsatzbereit.
Sehr schnell wird die Landschaft rauher und sehr karg, und als wir in der Abenddämmerung ankommen, ist es schon recht kalt.
Jede Art von Luxus ist in dieser unwirtlichen Gegend unbekannt: In einer einfachen Herberge bekomme ich ein enges, ungeheiztes Zimmer,
die grobe Bettdecke ist löchrig und scheint auch einmal eine andere Farbe gehabt zu haben. Die sanitären Anlagen befinden sich in
einem Wellblechverhau auf dem Dach: Zum Klospülen, Waschen und Duschen steht ein großer Bottich mit eiskaltem Wasser bereit.
Trotzdem bin ich in Erwartung der kommenden Tage sehr glücklich und fühle mich sauwohl, als ich einen Becher mit Jasmintee
schlürfe, den ich mir mit dem heißen Wasser zubereitet habe, das in jedem (!) chinesischen Hotelzimmer in einer Thermoskanne bereit steht.
Landschaft
Mittwoch, den 8.9.1999
Die Reihen lichten sich: Ein japanisches Paar und drei Polen, die bei mir im Auto gesessen waren, müssen
wegen schweren Symptomen der Höhenkrankheit - Nyalam liegt immerhin schon auf 3700 m Höhe - hierbleiben, um sich zu akklimatisieren,
bzw. umkehren.
Die Piste, die durch diese unwirtliche Steinwüste führt, ist zunächst noch recht gut. Das ändert sich jedoch bald:
Erdrutsche und weggespülte Brücken machen die ein oder andere Flussdurchquerung notwendig. Streckenweise ist der (ungeteerte)
Weg völlig aufgeweicht, und die Lastwagen haben so tiefe Spuren hinterlassen, dass der Fahrzeugboden aufsetzt und die Räder in
der Luft hängen. In einem Tal liegt ein kleines Dorf mit tibetischen Häusern. Die Lebensbedingungen für die hier lebenden
Menschen sind äußerst hart. Die Kinder haben grobe Kittel an und ihre Haut ist aufgrund der extremen klimatischen Bedingungen
spröde und aufgerissen.
Schlechte Straßenverhältnisse
Ab und zu bleibt einer der vier Landcruiser stecken, kann aber mit Hilfe der anderen immer wieder flott gemacht werden.
Langsam erreichen wir auf diese Weise den Lalung La, den zweithöchsten Pass auf dieser Strecke (5050 m). Außer leichtem Kopfweh
und Müdigkeit (ich schaffe es immer wieder, in dem hin- und herschaukelnden Geländewagen einzuschlafen!)
bereitet mir die dünne Luft zum Glück keine Probleme.
Einer dieser vielen Gipfel hier müsste der Mount Everest sein, ich weiß nur nicht welcher.
Doch angesichts der Erhabenheit dieses Ortes verlieren solche Fragen an Bedeutung. Der Blick auf die schneebedeckten
Achttausender auf der einen, und das „Dach der Welt“ auf der anderen Seite ist atemberaubend. Bunte tibetische Gebetsfahnen wehen im Wind.
Am späteren Nachmittag bleibt wieder einmal ein Auto stecken, kann diesmal aber nicht so schnell aus dem Morast
gezogen werden: Ein stählernes Abschleppseil reißt, etwa zehn Helfer mühen sich ab. Inzwischen ist es schon stockdunkel
geworden, nur die schwachen Scheinwerfer leuchten in der Einsamkeit. Wegen der sakrischen Kälte ziehe ich mir alle verfügbaren
Kleidungsstücke an, das sind je zwei Jeans und Pullover, vier T-Shirts drunter, die gefütterte Jacke drüber und drei Paar Socken.
Da ein Ende der Aktion nicht in Sicht ist, lege ich mich im Kofferraum auf den Rucksäcken hin und schlafe. Als ich aufwache, sind
wir wieder ein Stück gefahren und haben auch schon den 5220-Meter-Pass hinter uns. Es ist schon weit nach Mitternacht,
als hinter einer scharfen Rechtskurve die Straße vom Fluss unterspült wurde und weggebrochen ist. In der Dunkelheit
kann der Fahrer die Situation zu spät erkennen und fährt geradewegs in den Abgrund: Der Sturz dauert 4 m lang, ein harter
Aufprall, Finsternis. Während ich vom eisigen Gebirgsfluss umspült werde, versuche ich, die auf mir liegenden Rucksäcke
beiseite zu schieben. Dann überlege ich, in welcher Position
das Auto liegt (es hat sich überschlagen und die Räder zeigen gen Himmel, wie ich später sehe) und suche die Griffe
der Hecktür. Diese klemmt nur etwas, so dass ich sie mit einem Tritt öffnen kann. Als ich endlich durch den reißenden,
dafür aber nur etwa 70 cm tiefen Fluss gewatet bin und das Steilufer erklettert habe, warten die anderen schon. Der hinter uns
Fahrende, sowie ein entgegenkommender Truckfahrer haben angehalten, und helfen, das Gepäck zu bergen. Mein großer Rucksack
wird triefend nass aus dem Wasser gezogen, der kleine dagegen wurde durch ein zerbrochenes Fenster weggespült. In diesem waren
alle (ALLE!) meine Filme mit den Indienbildern, der Fotoapparat und meine China-Reisebücher.
Ein hilfsbereiter Student aus der Gruppe leiht mir seine Taschenlampe und zu zweit laufen wir
noch ein paar hundert Meter flussabwärts, ohne jedoch etwas zu finden. Dieser Verlust trifft mich hart, aber ich bin
trotzdem dankbar, dass mir nichts weiter passiert ist. Gott sei Dank! Eine Australierin hat sich ein blaues Auge und eine stark
blutende Wunde im Gesicht zugezogen. Wir quetschen uns in das andere Auto. Etwa eine Stunde noch dauert die Fahrt bis Lhatse,
dem geplanten Etappenziel. Das Hotel ist voll belegt und eine nicht endenwollende Diskussion, während der mir die nassen
Kleider am Leibe kleben, entbrennt, bis wir in einen kargen Schlafsaal gewiesen werden. Strom gibt es keinen in diesem Verhau, nur eine Kerze
steht auf dem Tisch in der Mitte des Raumes. Bevor ich mich todmüde schlafenlege, breite ich mein nasses Gepäck auf den
freigebliebenen Betten aus.
Donnerstag, den 9.9.1999
Meine Sachen sind über Nacht kaum trockener geworden, weshalb ich die wichtigsten Kleidungsstücke
in die Morgensonne lege, bis es sich später bewölkt und anfängt zu regnen. Von verschiedenen Mitreisenden leihe
ich mir Socken, Sandalen und eine schlafanzugähnliche Jogginghose. Die Weiterfahrt verzögert sich, da die Fahrer noch
einmal zur Unglücksstelle zurückgefahren sind. Und hurra, welch ein Glück! Sie finden tatsächlich meinen
Rucksack wieder, der mehrere Stunden lang im Wasser gelegen hat: Die Indienfilme sind in den Döschen nur ein wenig feucht
geworden, den Fotoapparat dagegen kann ich abschreiben. Meinen 700 Seiten dicken China-Reiseführer kann ich auswringen wie einen Schwamm!
Dank der nun wesentlich besseren Straßenverhältnisse kommen wir noch vor Einbruch der
Dunkelheit in Shigatse an. Im Hotel bekomme ich erfreulicherweise ein Dreierzimmer, in dem sonst niemand einquartiert ist,
so dass ich genügend Platz habe, den nassen Inhalt meines Rucksacks auszubreiten. Vorher lege ich jedoch die feuchten
Streichhölzer einzeln auf den Fernseher, damit sie durch die entweichende warme Luft schneller trocknen.
Dann zünde ich zwei Kerzen an und hänge meine Schuhe darüber. So sind diese schon nach kurzer Zeit wieder trocken.
Freitag, den 10.9.1999
In Shigatse suche ich zuerst eine Bank, um endlich ein paar Travellerschecks einzuwechseln, denn bis jetzt
habe ich mich mit den 20 US$ durchgeschlagen, die ich gleich am Anfang in Zhangmu getauscht hatte. Dann laufe ich zum Tashilumpo,
einem der bedeutendsten Klöster in Tibet. Ich umlaufe es auf dem Pilgerweg, der von unzähligen
Gebetsmühlen gesäumt ist. Dabei habe ich immer die goldenen Dächer der Klostergebäude und
die im Hintergrund sich erhebende Burgruine im Blick, und mir zu Füßen breitet sich die Stadt Shigatse aus,
die eingebettet im Hochgebirge liegt. Von hier oben kann man auch die deutliche Trennung zwischen der tibetischen Altstadt
und dem chinesischen Neubaugebiet wahrnehmen. Auf meinem Weg begegne ich vielen Pilgern, die beständig ihre
Gebetsmühlen drehen und den (laut Reiseführer) berüchtigten tibetischen Hunden,
die aber friedlich in der Sonne dösen. Mittags geht die Fahrt weiter über
eine Straße, die jetzt sogar mit einer Teerdecke versehen ist und ein zügiges Vorankommen ermöglicht.
Über weite Strecken schlängelt sie sich am Ufer des Tsangpo, der später in Indien Brahmaputra genannt wird,
entlang. Je mehr wir uns Lhasa, der Hauptstadt Tibets, nähern, desto häufiger treffen wir
auf Militärfahrzeuge der chinesischen Volksbefreiungsarmee (PLA). Und dann, welch ein Anblick: Vor meinen Augen erhebt
sich der gewaltige Potala, der Palast des Dalai Lama, im goldenen Licht der untergehenden Sonne! Ein
überwältigender Höhepunkt meiner Reise, und auch die Italiener Enzo und Stephania schwärmen:
„Ah, finalmente, il Potala!“.
Im Snowland-Hotel bekomme ich ein Doppelzimmer mit Sofa und Sessel für 50 Yuan (etwa 12 DM)
und gehe anschließend mit anderen Gruppenteilnehmern zum Abendessen.